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Freitag, 31. Mai |
Volterra |
ch hatte zwar nicht die Absicht (und die Zeit), in Volterra an einer Ortsführung
teilzunehmen, genoss aber vom ersten Augenblick an den rauen Charakter
dieser schönen mittelalterlichen Stadt. |
as für mich einen Ort attraktiv macht, was ihn in meine Erinnerung
dauerhaft einprägt, ist meistens nicht das, was in den Reiseführern
steht, sondern ein Zusammentreffen von Details, ein Zufall, eine erlebte
Situation: Als ich, etwas geblendet vom starken Gegenlicht der Mittagssonne,
vor dem mächtigen Palazzo dei Priori stand und, den Blick gegen den Himmel
gerichtet, das wilde Flattern, die plötzlichen Schwenker und das scheinbar
ziellose Auf- und Abwärtsfliegen der Schwalben fasziniert beobachtete,
lösten sich die Bilder und die Geräusche der Gegenwart für eine kurze,
ewige, Zeit völlig auf. Und dieses Bild, nur dieses, ist "mein"
Volterra. |
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Im Restaurant versuchte ich zwar mich unauffällig und "italienisch"
zu geben, wurde aber trotz meiner korrekten Aussprache (wie schon in Collodi)
als Deutscher eingestuft. Für die in Massen auftretenden Kunden war die Speisekarte des Ristorante
"Il porcellino" vorzüglich übersetzt: "Zeveituspaisen"
(secondi piatti = Zweiter Gang), "gebratener schiuven" (prosciutto
arrosto = gebratener Schinken), dann eine köstliche deutsch-englische
Wortschöpfung: "gebackener vealbsstück" (vitello arrosto = Kalbsbraten). |
Camping "il boschetto" |
om
Campingplatz aus sehe ich die Silhouette von San Gimignano in der Abenddämmerung;
ich höre die Vögel zwitschern, mein Zelt steht schon, und ich mache mich
auf den Weg zur nächstgelegenen Trattoria. Am Rückweg, bei Vollmond, sieht
die beleuchtete Silhouette von San Gimignano wie ein Manhattan in der
Wüste aus - ein einmaliges Ereignis. Nahe den Büschen am Straßenrand umschwärmen
mich, wie kleine Lichtgirlanden in einem südländischen Sommerfest, tanzende
Reihen glitzernder Glühwürmchen. |
Samstag, 1. Juni 1996 |
San Gimignano |
as mit dem Zelten hatte ich mir anders vorgestellt.
Ununterbrochen und bis spät in die Nacht zwitscherte, trillerte und pfiff
es aus dem kleinen Wäldchen, ja sogar ein Hahn krähte mehrmals zu dieser
ungewöhnlicher Zeit, als ob er jeglichen Zeitbegriff verloren hätte. Und
bei den Hunden verhielt es sich so, dass wenn auch nur einer zu bellen
anfing, auch alle anderen sehr bald in sein Gebell mit einstimmten. Dazu
kam noch, dass die Toskaner nichts Besseres zu tun hatten, als mit ihren
Autos und Motorrädern die Landstraßen permanent auf und ab zu fahren,
um mich am Einschlafen zu hindern: daran gemessen schnarchten die Zeltnachbarn
wirklich sehr leise. |
Booking.com
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Um es kurz zu machen, nachdem ich mich, leidgeprüft vom harten Boden,
der Enge im Zelt und den nicht enden wollenden Geräuschen unzählige Male
im Schlafsack hin und her gewälzt hatte, konnte ich am Ende doch noch
eine Verständigung mit der Nacht erzielen und einschlafen. Und als ich
am Morgen darauf, frisch und gut gelaunt ein mit Fahrrädern, Surfbrettern
und sonstigem Zubehör vollbeladenes Wohnmobil ins Gelände einfahren sah,
erschien mir dieses wie eine Schnecke, die ein riesiges, überflüssiges
Schneckenhaus mit sich herumschleppt, und ich war mit meiner essenziellen,
naturnahen Ausrüstung wieder zufrieden. |
Ich machte mir zunächst einen faulen Tag, hockte stundenlang im Schatten
der Sonnenschirme in der Bar, begnügte mich zum Mittagessen mit ein paar
Wurstsemmeln, einem Gläschen Weißwein und viel Mineralwasser und nahm
im Laufe des Nachmittags noch mehrere Cappuccini zu mir. Endlich kam ich
zum lesen. Mit dem Wandern würde es bei diesem Sommerwetter sowieso nichts
werden, dachte ich, und dieser Gedanke erleichterte mich von mancher strapaziösen Ambition. Als die größte Mittagshitze vorbei war, fuhr ich die paar Kilometer
nach San Gimignano, reihte mich in den überwältigenden Fußgängerfluss
ein und ergab mich meinem Touristenschicksal. |
ber
es gibt für mich manchmal gerade dann Überraschungen, wenn ich am
wenigsten auf sie eingestellt bin: Von einer anfangs nicht eindeutig definierbaren
Richtung drang plötzlich Musik an meine Ohren. Es war Samstag, fiel mir
als Erstes ein, vielleicht gab es dem Schutzpatron zu Ehren, oder
wegen eines historischen Ereignisses wegen, oder einfach nur um den Touristen
eine Attraktion zu bieten ein Fest. |
Vor dem Dom spielte indessen, ganz ohne Anlass außer
aus Lust zu musizieren, der "gruppo musicale di Bergamo"
klassische Moderne auf Blechinstrumenten. Ich brauche kaum zu erwähnen, dass in dieser Jahreszeit (es gibt Pfingstferien in Deutschland) die meistgehörte Sprache in San Gimignano Deutsch ist.
So eine Fremdenschwemme verursacht subtile Veränderungen
in einem Ort: Auf der Straße hört man seltener die Landessprache, in den
Geschäften werden andere Waren als sonst verkauft,es spielt sich nicht
das "normale" Leben ab, sondern ein dem Tourismus angepasstes
Theater, ähnlich wie in der Quantenphysik, wo bereits das Beobachten
eines Ereignisses das Ereignis selbst verändert.
Um so wohltuender fand ich es, als ich vor dem Dom einer Gruppe Italiener
begegnete, die teils stehend, teils auf der breiten Treppe sitzend, lautstark
und gestikulierend debattierten. Als wir ins Gespräch kamen, erklärte
mir einer von ihnen mit sehr treffendem Ausdruck: "qui da noi
ogni sera è salotto - salvo l'inverno" (hier bei uns ist jeden
Abend Salon, außer im Winter). |
ch will mich zwar nicht in einer längeren Beschreibung
von San Gimignano verfangen, schließlich braucht man dazu nur jeden
beliebigen Reiseführer aufzuschlagen, aber ein paar Worte über diese unvergleichliche
Stadt, die auf der UNESCO-Liste der schützenswerten historischen Ensembles
steht und bereits zu den Zeiten der Medici unter Denkmalschutz
gestellt wurde, möchte ich doch verlieren. Von den ursprünglichen 72 Türmen
sind heute nur noch 15 erhalten. Diese Türme, die der Stadt den Ruf eines
Manhattans des Mittelalters gebracht haben, waren allesamt Prestige- und
Verteidigungsbauten von reichen Kaufleuten im 13. und 14. Jh. gewesen.
Die Konkurrenz um den höchsten Turm wurde solange vorangetrieben, bis
sich die Bürger der Stadt unter den hochgezogenen Bauten bedroht
fühlten und bestimmten, dass niemand seine "torre" höher als
den Rathausturm (54 m) wachsen lassen dürfe. |
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Solche Türme waren im italienischen Mittelalter durchaus keine Seltenheit,
aber nur in San Gimignano blieben sie als Ensemble bis zum heutigen Tag
erhalten. |
ls
ich zurückfuhr, war der Mond im Osten bereits aufgegangen, der Himmel
war im Begriff seinen rosigen Glanz zu verlieren, und es wurde langsam
dunkel. Aus der Ferne bot der Scherenschnitt der Stadt eines jener
Schauspiele, die sich mir auf ewig in die Erinnerung einprägen. |
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