Montag, 3. Juni
Beim morgendlichen Capuccino in Montalcino
anchmal habe ich den Verdacht, dass ich nicht wirklich reise, son­dern nur einen Vorwand zum Fotografieren und zum Schreiben suche. Letzteres, weil es eine Tätigkeit ist, die man überall ausüben kann, vielleicht weil es so beruhigend ist, wenn man in einer Bar auf der Piazza sitzt, den Blick auf und ab wandern lässt und zwischendurch schreibt. Man lebt dann nur in der Gedankenwelt, kein anstrengendes Suchen nach Fotomotiven, kein Schielen nach dem mehr oder weniger klaren Himmel – keine Hektik. Schreiben ist in mancher Hinsicht auch unabhängig von den Inhalten, denn es muss nicht viel passieren, um darüber schreiben zu können. Es reicht, wenn man einen alten, am Stock gehenden Herren beobachtet. Man erahnt noch das schöne Toskaner Gesicht seiner jungen Jahre: die ebenmäßigen Züge, die Adlernase, das pechschwarze Haar. Jetzt schleppt er sich nur gelangweilt dahin, und nur als vor der Bar eine Alte-Herren-Gesellschaft einen Witz loslässt, bleibt er stehen, seine Züge erhellen sich einen Augenblick, seine Augen strahlen auf, sein Mund verzieht sich zu einem kaum wahrnehmbaren Lächeln.
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Oder man beobachtet ein Kind, dem von den Eltern das Dreirad versteckt wurde und nun vorgetäuscht wird, es sei verschwunden. Alle An­we­sen­den lassen sich auf das Spiel ein: die alten Herren, die beim Kaffee sit­zen, der Barmann, Zufallspassanten. Schließlich lässt man dem Kleinen mit großem Trara sein Spielzeug wieder finden.
Die Festung von Montalcino (Lizenz)
ontalcino ist, im Gegensatz zu vielen Orten mit mehr Touristen­rum­mel, ruhig, fast verschlafen. Die Mauern der Festung, die steilen, engen Gassen, die schlanke, emporstrebende Figur des Rat­hauses, die Aussicht auf die weite, in dieser Jahreszeit noch grüne Landschaft, der mittelalterliche Charakter, all dies erzeugt ein bezauberndes Ambiente.
Bekannter als der Ort ist freilich sein Wein, der Brunello, um den hier ein echter Kult getrieben wird. Und auch sein preiswerter Bruder, der Rosso da Montalcino, ist nicht zu verachten. Und so wie man in Bayern das eigene, bayerische, Bier bevorzugt und der Frühschoppen mit Weißbier zur lokalen Kultur gehört, so würde hier niemand auch nur im Ent­fern­tes­ten daran denken, einen Barolo oder einen Kalterer See zu trinken. Es ist schön, eine lebendige Kultur zu beobachten, die es nicht nötig hat, ein Sammelsurium fremder modischer Elemente in Anspruch zu nehmen.
estern Abend platzte ich in eine lokale Feier hinein, die die erwähnte Verschlafenheit für kurze Zeit aufgehoben hatte. In der Loggia war eine Reihe Tische aufgestellt worden, und eine kleine Kapelle spielte mit erheblicher Lautstärke nicht mehr ganz aktuelle Schlager. Dabei er­zeugte eine verhältnismäßig kleine Schar Jugendlicher durch ihr Singen, Jubeln, Springen und Tanzen großen zusätzlichen Krach. Sie klatschten mit nach oben gestreckten Armen in die Hände, umarmten sich, lachten, und warfen einige von ihnen (wohl Fußballspieler) mit vereinten Kräften hoch in die Luft. "Ha vinto il Montalcino" (der FC Montalcino hat ge­won­nen), erläuterte mir ein junger Fan.
eute ist die Schläfrigkeit wiederhergestellt. Ein Priester in schwar­zer Soutane schlendert vorbei, hält sich einige Augenblicke bei einem alten Mann auf und drückt ihm herzlich die Hand.
Auf Zimmerusche
s wird Zeit, dass ich etwas über die manchmal schwierige Zimmer­suche erzähle.
In Lucca landete ich mit dem Auto in der autofreien (!) Innenstadt, schwitzend, fluchend und mit dem schier aussichtslosen Unterfangen, in den engen Einbahnstraßen ein Hotel zu finden. Ich fand schließlich das kleine Hotel Bernardino, das zwar außerhalb der Mauern liegt, aber nur wenige Minuten vom Zentrum entfernt ist und eine angenehme familiäre Atmosphäre ausstrahlt.
Auch gestern spielte sich die Suche (die schließlich in Montalcino endete) nicht gerade auf erfreuliche Weise ab. Nach dem Besuch des Klosters von Monte Oliveto ging die Fahrt durch eine sanfte, bereits in die Spät­nach­mit­tagsfarben getauchte hügelige Landschaft weiter. Endlich hatte ich im Licht und in den Formen des Landes ein wenig von jener Toskana ge­fun­den, die meiner Vorstellung entsprach.
In Chiusure, einem Dörfchen wie in De Sicas Film "Pane amore e fan­ta­sia", suchte ich, beschwingt von der Vorstellung, alte Filmerinnerungen wieder ins Leben zu rufen, nach einer Unterkunft. Drei Mal fuhr ich um das Dorf herum, stieg aus, lief durch alle Gassen, betrat den einen oder anderen Laden - vergeblich! Es ist kaum zu glauben: In einer Gegend, durch die jedes Jahr und zu jeder Jahreszeit Tausende von Touristen fahren, gibt es so gut wie keine Privatzimmer. Die Schilder "Zimmer frei" sind weit, weit weg!
Also Schluss mit der Hoffnung, abends bei Sonnenuntergang auf der klei­nen Piazza zu sitzen und das warme, kleine, dörfliche Italien zu ge­nie­ßen. Ich fuhr weiter.
Das Licht wurde immer sanfter, die Hügellandschaft immer anmutiger. Bald kam ein Hinweis: "azienda agrituristica". Also nichts wie in die Nebenstraße abzweigen, weiterfahren auf steinigem, staubigem Weg, mal rauf und mal runter, kilometerweit, nach jeder Kurve eine völlig neue, faszinierende Aussicht - aber wann endlich würde ich mein Ziel er­rei­chen? Ich war begeistert, musste aber immer häufiger auf die Uhr schauen und auf die Benzinwarnlampe, die bereits gefährlich flackerte.
Als ich nach unzähligen Kurven und Tonnen von aufgewirbeltem Staub endlich ankam, war ich zunächst etwas betroffen. Das ist also eine azienda agrituristica, dachte ich mit einem unangenehmen Gefühl in der Magengegend. Vor mir sah ich mehrere flache, moderne Bauten, eine Umzäunung, in der sich ein paar Pferde tummelten, und einen ge­räu­mi­gen Parkplatz mit Autos aus Siena und aus Deutschland, also offen­sicht­lich von Urlaubsgästen. In einem der Anwesen tauchte plötzlich ein "Verwalter" auf und führte mich hinein. Drinnen gab es eine Bar, Sauna und Massage-Räume und einen entsetzlich geschmacklosen Aufent­halts­raum, der eine Atmosphäre wie in einer Diskothek in Rimini ausstrahlte.
Das gab mir den Rest. Mit "Ferien auf dem Bauernhof", so war mein Eindruck, hatte dieser agriturismo so gut wie nichts zu tun. Man hatte es hier nicht mit einem landwirtschaftlichen Betrieb zu tun, dem ein paar Zimmer für Touristen einen Nebenerwerb ermöglichten, sondern mit einer modernen Ferienanlage mit allem Komfort, rustikal nach Maß der Städter, mit Appartements, Restaurantbetrieb, Sportmöglichkeiten und anderem mehr.
Frei laufende Hühner und freundliche "Mamas", die im Dampf der Küche stehen und in großen Töpfen Spaghetti umrühren, konnte man nicht erwarten. Ernüchtert stieg ich ins Auto und fuhr den gleichen langen und staubigen Weg, den ich gekommen war, wieder zurück.
Das Benzin und das Licht gingen rapide zur Neige und ich musste, falls ich nicht irgendwo in der Dunkelheit ohne Sprit und ohne Trost mitten auf der Landstraße übernachten wollte, auf den Gedanken einer idyllischen Unter­kunft auf dem Land verzichten und im nächstgelegenen größeren Ort ein Quartier suchen. Bilanz der langen Suche: ein nicht gerade preiswertes Zimmer direkt an der Hauptstraße etwas außerhalb von Montalcino.
urch diese Erfahrung schlauer geworden aber keinesfalls gewillt, auf ein "Bett mit Aussicht" zu verzichten, hatte ich mich heute schon frühzeitig auf die Suche gemacht. Bereits ab Mittag kreuzte ich mit Argus­augen aber ohne Hektik in der Gegend auf und ab. Einmal kam ich sogar an einer "azienda" vorbei, die einen herrlichen Ausblick auf den Monte Amiata bot. Nur hatten leider bereits deutsche und holländische Urlauber alle Gästezimmer in Anspruch genommen.
Bei der nächsten, diesmal wieder eher aseptisch wirkenden azienda, an der ich vorbeikam, war ich wieder nahe dran, aufzugeben und noch einmal in einer Stadt, diesmal in Pienza, ein Hotel aufzusuchen.