In den Marken
Die Marken sind eine sanfte, mehr hügelige als gebirgige Region in der Mitte der italienischen Halbinsel, in der sich sanfte Hügel, geschmückt mit Getreidefeldern und Oli­venbäumen, wie die Wellen des Meeres bis zum Horizont aus­deh­nen. Und erst allmählich spricht es sich herum: Die Marken sind noch nicht überlaufen wie ihre bekanntere Schwester, die Toskana. Und doch sind ihre Städtchen, die wie Schwalbennester auf den Hügelkuppen sitzen, nicht minder malerisch und sehenswert. Sie haben sich ihre Beschaulichkeit erhalten.
Landschaft in den Marche
Der Reiz dieser Region liegt ja gerade darin. Obwohl in den Marken jedes Dorf seine „Sagra“ und seine Festspiele hat und jede Kleinstadt ihr festes Theater- oder Opernhaus, ist die touristische Infrastruktur noch spärlich (die Spei­se­kar­ten sind noch nicht auf Deutsch) aber die Land­schaft weist eine Vielfalt auf, welche die „Marchigiani“ von ihrer Heimat sagen lässt: „Wir sind ganz Italien in einer Region“. Urbino ist die Geburtsstadt des Malers Rafael, Pesaro die von Gioacchino Rossini, Recanatis großer Sohn ist der Dichter Giacomo Leopardi.
Landschaft in den Marche
Recanati
Für jemanden, der in Italien aufgewachsen ist, erzeugt der Klang dieses Stadtnamens, wie bei einem pawlowschen Reflex, eine spontane Assoziation zum Namen des großen Dichters der italienischen Romantik, Giacomo Leopardi, der 1798 hier geboren wurde und von seinem Heimatort Inspiration für viele seiner Gedichte fand. Spontan tauchen dann aus der Tiefe der Erinnerung Verse aus den Gedichten „Samstag auf dem Dorf“, „Die einsame Amsel“oder aus dem berühmtesten, „Das Unendliche“, auf, die in Italien jedes Schulkind auswendig lernen musste. Ich frage mich, ob das auch heute noch so ist. Ein Spaziergang zum Monte Tabor, dem Hügel des „Unendlichen“, bei Sonnenuntergang lässt dann auch noch das letzte Stück vom Herz schmelzen.
Lieb war mir stets hier der verlass'ne Hügel
und diese Hecke, die vom fernsten Umkreis
so viel vor meinem Blick verborgen hält.
Doch hinter ihr - wenn ich so sitze, schaue,
endlose Weiten, formt sich dort mein Denken,
ein Schweigen, wie es Menschen nicht vermögen,
und tiefste Ruhe; da verlernt die Seele
das Fürchten bald. Und wenn des Windes Rauschen
durch diese Bäume geht, halt ich die Stimme
dem Schweigen, dem unendlichen, entgegen,
ihm zum Vergleich: des Ewigen gedenk ich,
der toten Jahreszeiten und der einen,
die heute lebt und tönt. Und so versinken
im Unermeßlichen mir die Gedanken,
und Schiffbruch ist mir süß in diesem Meere.
Der Hügel des Unendlichen
Weniger bekannt ist, dass Recanati einen weiteren großen Sohn aufzuweisen hat: den Tenor Beniamino Gigli, einen der größten Tenöre seiner Zeit, der als legitimer Nachfolger von Enrico Caruso galt. Und dass Recanati auch eine bemerkenswert schöne Kleinstadt ist, das war für mich die angenehmste Überraschung. Der Ort, der sich auf einem Hügelkamm erstreckt, von dem man eine weite Sicht über ein herrliches Panorama genießen kann, ist ein kleines, intimes, intakt gebliebenes Juwel, wo ich am Liebsten ein paar Tage eintauchen würde.
Piazza Leopardi in Recanati
Im Restaurant
Mittlerweile bin ich wieder im heutigen Italien an­ge­kommen, in einem Restaurant. Sollte ich gedacht haben, in der Stille der Vorsaison mich in die Gedichte von Leopardi vertiefen zu können, so habe ich mich getäuscht. Denn obwohl das Lokal zu dieser frühen Stunde ziemlich leer ist, sorgt das Fernsehgerät für eine kontinuierliche Geräuschkulisse und sorgen seine flimmernden Bilder dafür, dass meine Blicke wie hypnotisiert immer wieder hinauf ins Eck wandern, von wo das Gerät seine Macht ausübt. So ist es nicht der Reim „Wie schlimm misshandelt hast du mich, o Liebe! Warum nur stürzt uns diese süße Lust in solcher Schmerzen sehnliches Getriebe!", der meine Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, sondern ein Wer­be­spruch wie: „Birra Moretti, der Geschmack der Ehrlichkeit“. Und es ist nicht die gütige Natur, die mir hohe Freuden und Gaben gönnt, sondern "die fantastische Welt von Gardaland, wo jeder Traum Wirklichkeit wird“. Bald bin ich nicht mehr der Einzige, der an der Glotze hängt. Am Nebentisch hat eine Gruppe einheimischer Männer Platz genommen. Im Fernsehen läuft „Chi vuol essere milionario?“, eine identische Kopie auf Italienisch unserer Günter-Jauch-Sendung. Vor der Einführung des Euro in Italien hieß die Sendung übrigens „Chi vuol essere miliardario?
Antiquitätmesse in Recanati
Was waren Han van Meegeren und Elmyr de Hory? Berühmte Falschspieler, Bauchredner, Spione oder Kunstfälscher?“ Wie könnte ich mich bei einer solchen Preisfrage auf meine Antipasti konzentrieren? Vom „secondo“ (Hauptgang) lenkt mich etwas später eine Nachrichtensendung ab. „Frau erregte Anstoß, weil sie in einer Bar ihr Kind stillte“. Tatort: Eine Bar in Monza, in der aufgeklärten Lombardei. Die junge Frau hatte sich in eine Ecke zurückgezogen, um so dezent wie möglich ihr Kind an die Brust zu nehmen, als der Inhaber sie in barschem Ton des Lokals verwies. Darüber entzündet sich bei meinen Tischnachbarn eine hitzige Diskussion. Merkwürdigerweise verteidigen einige der Männer sogar das Verhalten des Barinhabers.
Bald schließt sich ein weiterer Mann der Tafelrunde an. Wie ein Pascha betritt er in Gesellschaft zweier auffallend gut aussehender Frauen das Restaurant. Ich muss mir lange den Kopf über diese heterogene Verbindung zerbrechen, ehe ich eine Vermutung aufstellen kann. Erst als ein Mann aus der Gruppe, der sich mit seiner roten Hose und affektiert wirkendem Verhalten von der Durchschnittlichkeit der anderen abhebt, eine der Frauen anspricht, bekomme ich ein paar Elemente, um dieses Rätsel zu lösen.
Die Russen kommen
In Russland“, behauptet er, und untermauert sein Wissen mit der Behauptung, schon mit der transsibirischen Eisenbahn gereist zu sein, „sind nur noch wenige Männer geblieben. Und die sind allesamt betrunken.“ Während die hübschere Blondine schweigt, kontert ihre resolut wirkende Freundin, die ohne Zweifel Italienisch mit russischem Akzent spricht, schlagfertig: „Stehst du auf Männer?“. Und als weiteren Seitenhieb: „In Russland ziehen sich die, die Geld haben, gut an, in Italien hingegen, von wo die schönste Mode kommt, sind die Männer schlecht gekleidet.
Kyrillisch für die neuen Touristen
Die Bemerkung erzielt seine Wirkung! Stotternd rechtfertigt sich der Möchtegern-Beau: „Ich habe viel Geld, und das gebe ich aus, wie ich will!“. Italienische Mode genießt in Russland ein hohes Ansehen. Es rentiert sich, in kleineren oder größeren Mengen Modeware in Italien einzukaufen, und sie dann in Petersburg oder Moskau mit Gewinn weiterzuverkaufen. Die Russinnen sind selbst mit Produkten von Dolce & Gabbana ausgestattet. Jetzt bekommt die Rolle ihres Begleiters langsam Züge. Er wird vermutlich Inhaber eines Modegeschäfts sein.