Riccione in der Vorsaison
Ich bin wieder zu Besuch bei Freunden, bei Fernanda und Yves diesmal, die mehrere Mo­na­te im Jahr hier an der Adriaküste der Ro­magna verbringen. In dieser Jahreszeit sind die Strän­de noch nicht zum „Teutonengrill“ mutiert, sie haben noch ihren herben Reiz, sie lassen melancholische Gedanken aufkommen, sie wecken Erinnerungen an ein vergan­ge­nes Ita­lien, das streng genommen nur in meiner Fantasie seinen Platz haben könnte, denn in den zwei­und­zwanzig Jahren, die ich in Italien verbracht ha­be, war
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ich kein einziges Mal auf dieser für einen Ligurer ziemlich langweiligen Küste in Urlaub. Weshalb hätte ich das auch tun sollen? Meine Sommerlandschaft war die Riviera, mit seinen stei­len Küsten, kleinen Stränden, intimen Ort­schaf­ten mit buntbemalten Häusern direkt am Meer! Hätten da Rimini, Riccione und Cattolica jemals mithalten können? Mit den ro­man­ti­schen Cinque Terre?
Was also macht den Reiz aus, den diese noch verwaisten Strände auf mich ausüben? Ist es vielleicht, dass diese Gleichförmigkeit, dieses Fehlen von optischen Reizen und diese Ästhetik des Langweiligen mir ein Gefühl der Ent­span­nung und des Sich-gehen-lassen-können ver­mit­teln, mehr als es eine felsige, schroffe Küs­ten­land­schaft je tun könnte?
Die Leere der Vorsaison
Gut denkbar, dass dieses seichte Adriagewässer mich in dem Eindruck verstärkt, dass ich mich weder zum Schwim­men noch zu irgendwelchen sportlichen oder an­de­ren anstren­gen­den Aktivitäten hingeben muss. Hier „badet“ man lediglich, „kühlt sich ab“ oder „planscht“, und das nur als kinderleichte, vorüber­gehende Ne­ben­be­schäf­tigung des bequemen Liegens unterm Son­nen­schirm mit einem guten Buch in der Hand. Klar, dass mir solche Gedanken nur in der Leere dieser Vorsaison kommen können, denn die Rea­lität der Massen von Strand- und Wasser­benutzern und –verschmutzern im Juli und August ist mit dieser Vorstellung nicht vereinbar.
Aber paradoxerweise kann ich auch mit der heißen Jah­res­zeit positive Gedanken ver­bin­den. Dann, wenn die leisen Töne und die zur Melancholie inspirierende Stim­mung vom Sommer weg­gefegt werden, kommt die Zeit der Ge­sel­lig­keit, des Plausches beim Aperi­tif, der Aben­de mit Freunden im Restaurant am Strand. Und was gibt es Schöneres, als wäh­rend der brü­tenden Hitze der Mittagszeit Zuflucht hinter herabgelassenen Gardinen zu suchen, wo das grelle Licht zu kühlem Schatten mutiert und die feinen Sonnen­strah­len, die durch die Jalousien schlüpfen und Akzente im Raum setzen, Bilder er­schaf­fen, die mich an die sinnlichen Interieurs von Matisse erinnern? 
Während ich mit Fernanda und Yves bei kühlem und klarem Wetter per Fahrrad die fast endlosen Strandpromenaden von Riccione entlang kutschiere, ent­decke ich noch einen weiteren Blickwinkel, unter dem ich diese Badelandschaft betrachten kann. Wenn man sich auch nur für einen Augen­blick vom Gedanken an stille, einsame Buch­ten mit kris­tall­klarem grünen Meer verab­schiedet, dann können die skur­rilen Strand­res­taurants, die Spielplätze, die Strandbäder mit ihren bunten Badekabinen und all die künst­liche Frei­zeit­ar­chitektur zum Gesamt­kunstwerk werden – es ist nur eine Frage der Perspektive.
Man ist unter sich
Die neuen Touristen
Die Riviera romagnola um Rimini ist das Gebiet Italiens, in dem ausländische Besucher in den letzten Jahren das meiste Geld ausgegeben haben. Und der Anteil der Russen an diesem Geschäft wird von Jahr zu Jahr größer. Man braucht sich nur an irgendeinem Samstags­vor­mittag zum Flughafen „Federico Fellini“ von Rimini begeben. Jedes Wochen­en­de lan­den hier ein Dutzend Flugzeuge aus Russland. Es sind Direktflüge aus Sankt Pe­tersburg, Nowosibirsk, Jekaterinburg und, in der Hauptsache, aus Moskau. Rimini war der erste italienische Flughafen, auf dem Charterflüge aus Moskau landeten. Die Russen haben die italienische Adria-Küste entdeckt. Die Hinweise „Check-in“ und „Gates“ wur­den längst ins Russische übersetzt.
Die „Invasion“, wenn wir sie so nennen wollen, begann Mitte der 1990er Jahre. Es waren zunächst hauptsächlich gewerbliche Besucher. Sie kamen, kümmerten sich weniger um Sehenswürdigkeiten als um die großen Kaufhäuser, sie waren nur verrückt nach „Made in Italy": nach Schuhen, Taschen, Kleidern. Sie kauften und kauften in rauen Men­gen für ihre eigenen Läden in Russland.
Nach mehr als zehn Jahren kommen sie immer noch, aber inzwischen haben sich ihnen Hunderttausende von Tou­risten ange­schlos­sen. Auch sie kom­men um ein­zu­kaufen.
Es gibt sie zwar auch, die armen Russen oder Ukrainer, die nach Italien kommen, um Arbeit zu finden, die auf dem Bau oder als Krankenpfleger arbeiten, aber es sind Russ­lands Reiche, die die italienische Adria entdeckt haben und jene Lücke füllen, die we­gen dem Fernbleiben der Deutschen und der Skandinavier entstanden ist.
Aus dem Teutonengrill ist das Einkaufsparadies der reichen Russen geworden. Eine ganze In­dus­trie umschwärmt inzwischen diese neue Kundschaft. In den Schaufenstern werben Schilder in kyrillischer Schrift für Jacken von Dolce & Gabbana und Mode von Armani und Versace. Viele Hotels bieten inzwischen auch russische Fernsehkanäle auf den Zimmern. Und nachdem die Hotelmanager sich zunächst darüber ärgerten, dass die Rus­sen ihre Einkäufe im Hotelzimmer stapelten, richten sie jetzt für diesen Zweck extra Lagerräume ein.
Skurrile Weinetiketten
NACHTRAG: Bereits vor der CORONA-Krise war der Boom russischer Touristen abgeflacht. Die Hauptursache war die Entwertung des Rubels. Die Russen wurden durch Touristen aus dem Reich der Mitte ersetzt. Italien war im Jahr 2018 mit über 3 Millionen Besuchern das beliebteste Reiseziel chinesischer Besucher. Damit ist es vorbei! 2021 kehren allmählich die deutschen Touristen zurück.