Vieste | |||||||||
Vieste ist eine kleine Stadt mit etwa 13.000 Einwohnern auf der Halbinsel Gargano, die in der Region Apulien liegt. Weil sie von zwei langen, schönen Sandstrände eingeschlossen ist, wurde sie in den letzten Jahren zum begehrten Reiseziel für Touristen aus aller Welt. | |||||||||
Apulische Küche | |||||||||
Sollte ich jemals gedacht haben, dass sich die Armut des italienischen „Mezzogiorno“ auch im Essen widerspiegele, hätten mich allein die zwei Tage in Vieste, an der Halbinsel Gargano in Apulien eines Besseren belehrt. Der Ort scheint fast nur aus Gaststätten, Pizzerias und Restaurants zu bestehen: „Pizzeria principe“, „Ristorante Tavernetta“, „Pizzeria la bottega di Pasquale“, „Osteria degli archi“, „Pizzeria antico forno“, „Osteria al torchio“, „Ristorante Padre Pio“, „Ristorante la scogliera“, „La taverna del conte“, „Ristorante il cenacolo“, „Pizzeria pizzicotto“, „Ristorante la cambusa“ „La taverna del Buda“, nur um einige zu nennen. | |||||||||
Booking.com | |||||||||
Die ersten positiven Hinweise auf die Esskultur eines Landes oder einer Region sind die Vielfalt, die man auf den Speisekarten findet, und die Tatsache, dass diese nicht wie Klone jener von anderen Regionen oder Ländern aussehen. Welch ein Genuss bereitet mir schon allein das lesen der Speisekarte in der „Taverna al Cantinone"! | |||||||||
„Maccarunciddi ai gamberi e funghi porcini“ (Makkaroni mit Krabben und Steinpilzen) „Orecchiette con cime di rape“ (Orecchiette mit Stängelkohl) „Favette e cicoria con crostini“ (Dicke Bohnen mit Zichorie und geröstetem Weißbrot) „Broccoli con porcini e salsiccia“ (Broccoli mit Steinpilzen und Bratwurst) „Risotto con gamberi e zucchine“ (Risotto mit Krabben und Zucchini) „Stufato di alici con rape“ (Schmorbraten von Sardellen und Rapskohl) „Orecchiette con gamberi e zucchini“ (Orecchiette mit Krabben und Zucchini) „Melanzane ripiene con pane gratuggiato, pecorino stagionato e uova“ (Mit Semmelbröseln, Pecorino-Köse und Eiern gefüllte Auberginen). |
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Orecchiette con cime di rapa | |||||||||
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Antonio und Nicola | |||||||||
Seit 1914 liege das Wrack schon hier, im seichten Wasser vor der Promenade von Vieste, erzählt der achtzigjährige Nicola. Er selbst habe es zwar nicht erlebt, die Geschichte habe er aber aus erster Quelle, nämlich von seinen Vater, Jahrgang 1887. Es sei ein Schlepper der Kriegsmarine gewesen, das durch die schwere See auf den Strand getrieben wurde und dort auf Grund lief. | |||||||||
Damals habe es diesen „Stadtpark“ (eigentlich nur eine gepflasterte Fläche mit Palmen) noch nicht gegeben, fügt Antonio, ein etwas jüngerer Kumpel Nicolas hinzu. Der Strand sei noch bis zu den Häusern gekommen. Daraufhin Nicola stolz: „Ich habe diese „giardini pubblici" (Parkanlage) mitgestaltet. | |||||||||
Der Stadtpark am Meer | |||||||||
Jede einzelne Palme habe ich damals, 1957, eigenhändig gepflanzt. Und so entspinnt sich eine interessante Debatte über Arbeit, Ausländer, Emigranten. 37 Jahre habe Antonio in Deutschland gelebt. Sein Vater habe damals in die Emigration gehen müssen. Wäre er in Italien geblieben, wäre er vermutlich Terrorist geworden, so schlimm seien die Verhältnisse gewesen. | |||||||||
Nicola | |||||||||
„Ohne Beziehungen bekam man damals keine Arbeit“, fährt Nicola fort, „Man war der Willkur der 'padroni' ('Herren' – ein Wort, wie aus dem Mittelalter) völlig ausgeliefert“. Kommunisten wie sein Vater hätten hier im Süden, wo die Konservativen herrschten, keinerlei Chancen gehabt. Viel habe sich seit damals aber nicht geändert, berichtigt ihn Antonio, der arbeitslos ist und im Sommer als Badmeister oder als Koch ein karges Einkommen erzielt. Wenn er sich irgendwo bewerbe, werde kaum nach seinen Qualifikationen gefragt, betont er, sondern ausschließlich nach „chi lo manda“ (wem ihn geschickt habe). Mehrmals sei es nach einer Zusage geschehen, dass plötzlich ein anderer den Job bekommen habe, ein „raccomandato“ (Günstling, Empfohlener). | |||||||||
Licht des Südens | |||||||||
Als Nicola gegen die Ausländer wettert, die für Billiglöhne den Einheimischen die Arbeit wegnehmen, widerspricht ihm Antonio, der selbst mit einer Rumänin verheiratet ist. Nicht die Ausländer seien schuld, es seien die „Padroni“, die die Not der Immigranten ausnutzten, um sie mit Billiglöhnen auszunutzen. Es gebe nach der rasanten Entwicklung des Tourismus in dieser Gegend Dutzende von Euromillionären, Hoteliers, Pension- und Restaurantbesitzer, Campingplatzeigner. Und diesen traten auf wie wie „padroni“. Als habe es in den letzten Jahrzehnten keinerlei soziale Entwicklung gegeben. | |||||||||
Nichts habe sich, trotz des neuen Reichtums in Vieste, wirklich geändert. Antonio hätte fast seine Arbeit zu Gunsten eines anderen „raccomandato“ verloren. Nur die Intervention eines befreundeten „assessore“ (Landrats) habe ihn gerettet. Es konnte nicht ausbleiben! Zu Mussolinis Zeiten sei man gerechter behandelt worden, seufzt der alte Nicola. | |||||||||
In den Gassen der Altstadt | |||||||||
Antonio ist unterdessen in Schwung gekommen. Leidenschaftlich schimpft er auf Behörden und Carabinieri. Die Behörden seien überbesetzt und niemand, der einen „posto fisso“ (eine feste Stelle) habe, leiste wirklich ernste Arbeit. Wenn man bei einem Amt jemand suche, sei der Gesuchte gerade in der Bar oder in die verlängerte Mittagspause gegangen. Vigili (Gemeindepolizisten) würden kaum Strafzettel vergeben und wenn doch, dann nur nach eigenem Gutdüngen. für einen nicht angelegten Gurt seien Strafen von 50 bis 500 Euro möglich. Aber nur der, den sie auf dem Kieker haben, muss letztendlich bezahlen. Antonio hat nur Respekt vor der einzigen „vigilessa“ (weiblichen Polizeibeamtin) in Vieste, die sogar ihrem Bruder einen Strafzettel verpasste. | |||||||||
In einem kleinen Ort wie diesem, in dem sich alle kennen, sei es unvermeidlich und ganz normal, dass beim eigenen Schwager oder Cousin oder Freundesfreund ein Auge zugedrückt werde. Nur die Beamten der Guardia di Finanza (Finanzpolizei) und der Polizia di Stato (Staatspolizei) seien korrekt und behandelten alle gleich. Die Carabinieri würden manchmal besonders erbarmungslos sein. Ein falsches Wort, und im Nu habe man eine Anklage wegen „offesa a pubblico ufficiale“ (Beamtenbeleidigung) am Hals. | |||||||||
Die „Punta di San Francesco„ | |||||||||
Abends treffe ich Antonio wieder. Diesmal erzählt er mir etwas Unglaubliches: Von den etwa 500 bagnini (Bademeistern), die an der Küste arbeiteten, könne ein hoher Prozentsatz nicht oder nur unzureichend schwimmen. Die Arbeitgeber (Campingplätze, Clubanlagen, Hotels) hätten bei deren Einstellung nur die geringeren Gehälter (etwa 800 Euro im Monat bei Halbjahresverträgen) im Auge. So würden die bagnini fast ausschließlich mit Reinigungs- und Kellneraufgaben betraut. Viele seien auch nur schwarz angestellt und noch schlechter bezahlt. Auch fehlten zeitkonforme Rettungsboote mit Außenbordmotoren. Er selbst habe die Bademeisterprüfung in Deutschland gemacht und sei beim ersten Mal durchgefallen, weil er es nicht geschafft hatte, einen Badenden in der Rückenlage 1 1/2 Stunden lang zu schleppen. Von solchen strengen Anforderungen kann man hier nur träumen. | |||||||||
Der „Faraglione“ (Felsenspitze) am Südstrand von Vieste | |||||||||
Der subtile Charme eines bürgerlichen Hotels | |||||||||
Sollte ich gedacht haben, im stilvollem Ambiente des Hotels Il Paradiso, im kleinen Ort Amandola in den Sibilliner Bergen (Marken-Umbrien), wegen der frühen Jahreszeit der einzige Gast zu sein, täuschte ich mich. Als ich in den Speisesaal eintrete, sitzen die Gäste bereits alle an ihrem angestammten Platz. Eine vornehme Stille hallt durch den meterhohen Raum. Selbst Flüstern wirft Echos. | |||||||||
„Cosa le portiamo?“ (Was wünschen der Herr?) | |||||||||
Als „primo“ (ersten Gang) habe ich die Wahl zwischen: | |||||||||
„Pappardelle fatte in casa con sugo di lepre“ (Hausgemachte Pappardelle mit Hasenragout), „Penne alle puttanesca con capperi e peperoncino“ (Penne auf „Nuttenart“ mit Kapern und Chili) oder"Ravioli alla ricotta con salvia“ (Ravioli mit Ricotta und Salbei). | |||||||||
"Di secondo avremmo“ (Als zweiten Gang hätten wir): | |||||||||
„Agnello alla griglia“ (Gegrilltes Lamm), „Lombatina di vitello“ (Kalbslendenstück) oder „Scaloppina al limone“ (Kalbsschnitzel „natur“ mit Zitronensoße). | |||||||||
„Di contorno“ (als Beilage): | |||||||||
„Patatine, carciofi, insalata mista“ (Pommes, Artischocken oder gemischten Salat). | |||||||||
Im Garten des Hotel Paradiso | |||||||||
Um die Beklemmung, die dieses Ambiente bei mir auslöst, ein wenig zu mildern, muss ich schleunigst ein Viertel Rotwein bestellen. | |||||||||
Bis auf den jungen Burschen am Nachbarstisch, der ein weißes T-Shirt trägt, haben sich alle in Schale geworfen. Beim Paar am linken Nebentisch hat der graumelierte Herr sogar einen weißen Strickpullover an - schließlich ist es in der feinen englischen Gesellschaft so üblich! | |||||||||
Landschaft in den Monti Sibillini | |||||||||
Und die Tischdecken? Natürlich sind die auch eines blütenreinen, wenn auch durch all die Saucen stark gefährdeten Weiß. Aber Weiß mit Pappardelle? Hat denn niemand eine Ahnung davon, wie schwer Pappardelle um die Gabel zu wickeln sind? Und die Stücke des Hasenragouts? Da muss ich kräftig säbeln, um die Knochen vom Fleisch loszulösen. Nach dem zweiten Gang schiele ich verstohlen zum Nebentisch: Das Tischtuch ist dort immer noch blütenweiß. Auch der Ungestüm des Jungen konnte seinem Weiß nichts anhaben. Nach was für einem Schlachtfeld sieht hingegen meine Tischdecke aus! Waterloo? Mir ist als würden alle, sogar die überspannt wirkende Jungfer am Ende des Saals vornehm herablassend auf die Tomatensoßflecken auf meinem Tisch starren. Ich gebe mich lässig, lege unauffällig meine Serviette auf die schlimmsten Stellen und bestelle ein Dessert. | |||||||||
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