Vieste
Vieste ist eine kleine Stadt mit etwa 13.000 Einwohnern auf der Halbinsel Gar­gano, die in der Region Apulien liegt. Weil sie von zwei langen, schönen Sandstrände ein­ge­schlossen ist, wurde sie in den letzten Jah­ren zum be­gehr­ten Rei­se­ziel für Touristen aus aller Welt.
Apulische Küche
Sollte ich jemals gedacht haben, dass sich die Armut des italienischen „Mezzogiorno“ auch im Essen widerspiegele, hätten mich allein die zwei Tage in Vieste, an der Halbinsel Gargano in Apulien eines Besseren belehrt. Der Ort scheint fast nur aus Gaststätten, Pizzerias und Res­taurants zu bestehen: „Pizzeria principe“, „Ris­to­rante Tavernetta“, „Pizzeria la bottega di Pasquale“, „Osteria degli archi“, „Pizzeria antico forno“, „Osteria al torchio“, „Ris­torante Padre Pio“, „Ristorante la scogliera“, „La taverna del conte“, „Ristorante il cenacolo“, „Pizzeria pizzicotto“, „Ristorante la cambusa“ „La taverna del Buda“, nur um einige zu nennen.
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Die ersten positiven Hinweise auf die Esskultur eines Landes oder einer Region sind die Viel­falt, die man auf den Speisekarten findet, und die Tatsache, dass diese nicht wie Klone jener von anderen Regionen oder Ländern aussehen. Welch ein Genuss bereitet mir schon allein das lesen der Speisekarte in der „Taverna al Cantinone"!
Maccarunciddi ai gamberi e funghi porcini“ (Makkaroni mit Krabben und Steinpilzen)
Orecchiette con cime di rape“ (Orecchiette mit Stängelkohl)
Favette e cicoria con crostini“ (Dicke Bohnen mit Zichorie und geröstetem Weißbrot)
Broccoli con porcini e salsiccia“ (Broccoli mit Steinpilzen und Bratwurst)
Risotto con gamberi e zucchine“ (Risotto mit Krabben und Zucchini)
Stufato di alici con rape“ (Schmorbraten von Sardellen und Rapskohl)
Orecchiette con gamberi e zucchini“ (Orecchiette mit Krabben und Zucchini)
Melanzane ripiene con pane gratuggiato, pecorino stagionato e uova“ (Mit Semmelbröseln, Pecorino-Köse und Eiern gefüllte Auberginen).
Orecchiette con cime di rapa
Früher“, erzählt mir der Wirt, „kauften die Leute den Pecorino-Käse nur einmal im Jahr und ließen ihn bei sich zu Hause reifen“. Der etwas rund­li­che, behäbig wirkende Mann spricht lang­sam und sehr deutlich und be­schreibt mir die Zubereitung der Gerichte mit äußerster Ge­nau­ig­keit, als wolle er mich als Kochgehilfen ein­stel­len. „Es ist nicht lan­ge her“, setzt er fort, „da aß man während der Woche aus­schließlich Pasta. Nur am Sonn­tag kam, falls man es sich leisten konn­te, ein Hauptgang dazu: gefülltes Gemüse, Fleisch oder Fisch“.
Zum Essen empfiehlt er mir einen Negro­ama­ro. Negro­amaro ist eine für Apulien typische  Rebsorte. Die meisten Weine der Gegend sind ein Verschnitt aus dieser und weiteren Reb­sorten, wie beispielsweise der Nero di Troia und Sangiovese. Der kräftige Wein schmeckt vor­züg­lich sowohl zu den Orecchiette als auch zu den Auberginen für die ich mich entschieden habe. Sein aus­ge­präg­tes Frucht­aroma erinnert ein wenig an schwar­zen Jo­han­nis­beeren. Um das Abendessen abzu­run­den, denke ich an einen Limon­cello ein, der Wirt schwärmt aber derart von dem von seiner Frau zu­be­rei­teten Lorbeer-Likör, den Lau­ri­cello, dass ich für diesen entscheide. Ein interessanter Geschmack!
Antonio und Nicola
Seit 1914 liege das Wrack schon hier, im seichten Wasser vor der Promenade von Vieste, erzählt der achtzigjährige Nicola. Er selbst habe es zwar nicht erlebt, die Ge­schich­te habe er aber aus erster Quelle, nämlich von seinen Vater, Jahrgang 1887. Es sei ein Schlepper der Kriegs­marine gewesen, das durch die schwere See auf den Strand ge­trie­ben wurde und dort auf Grund lief.
Damals habe es diesen „Stadtpark“ (eigentlich nur eine gepflasterte Fläche mit Palmen) noch nicht gegeben, fügt Antonio, ein etwas jüngerer Kumpel Nicolas hinzu. Der Strand sei noch bis zu den Häu­sern gekommen. Daraufhin Nicola stolz: „Ich habe diese „giardini pubblici" (Park­an­lage) mitgestaltet.
Der Stadtpark am Meer
Jede einzelne Palme habe ich damals, 1957, eigen­hän­dig gepflanzt. Und so entspinnt sich eine interessante Debatte über Arbeit, Aus­län­der, Emigranten. 37 Jahre habe An­to­nio in Deutsch­land gelebt. Sein Vater habe damals in die Emi­gration gehen müssen. Wäre er in Italien ge­blie­ben, wäre er vermutlich Terro­rist ge­wor­den, so schlimm seien die Verhältnisse gewesen.
Nicola
Ohne Beziehungen bekam man damals keine Arbeit“, fährt Nicola fort, „Man war der Willkur der 'padroni' ('Herren' – ein Wort, wie aus dem Mittelalter) völlig ausgeliefert“. Kommunisten wie sein Vater hätten hier im Süden, wo die Kon­ser­vativen herrschten, keinerlei Chancen ge­habt. Viel habe sich seit damals aber nicht geändert, berichtigt ihn Antonio, der arbeitslos ist und im Sommer als Badmeister oder als Koch ein karges Ein­kommen erzielt. Wenn er sich irgendwo bewer­be, werde kaum nach seinen Qualifi­ka­tionen gefragt, betont er, sondern ausschließlich nach „chi lo manda“ (wem ihn ge­schickt habe). Mehrmals sei es nach einer Zusage geschehen, dass plötzlich ein anderer den Job bekommen habe, ein „raccomandato“ (Günstling, Empfohlener).
Licht des Südens
Als Nicola gegen die Ausländer wettert, die für Billiglöhne den Einheimischen die Arbeit weg­neh­men, widerspricht ihm Antonio, der selbst mit einer Rumänin verheiratet ist. Nicht die Ausländer seien schuld, es seien die „Pa­dro­ni“, die die Not der Immigranten aus­nutz­ten, um sie mit Billiglöhnen auszunutzen. Es gebe nach der rasanten Entwicklung des Tourismus in dieser Gegend Dutzende von Eu­ro­mil­lionären, Hoteliers, Pension- und Res­tau­rant­be­sitzer, Cam­ping­platz­eigner. Und diesen traten auf wie wie „padroni“. Als habe es in den letzten Jahrzehnten kei­ner­lei soziale Entwicklung gegeben.
Nichts habe sich, trotz des neuen Reichtums in Vieste, wirklich geändert. Antonio hätte fast seine Arbeit zu Gunsten eines anderen „rac­co­mandato“ verloren. Nur die Inter­ven­tion ei­nes befreundeten „assessore“ (Landrats) habe ihn gerettet. Es konnte nicht ausbleiben! Zu Mus­solinis Zeiten sei man ge­rech­ter behandelt wor­den, seufzt der alte Nicola.
In den Gassen der Altstadt
Antonio ist unterdessen in Schwung gekommen. Lei­den­schaft­lich schimpft er auf Be­hör­den und Ca­ra­bi­nieri. Die Behörden seien über­besetzt und niemand, der einen „posto fisso“ (eine feste Stelle) habe, leiste wirklich ernste Arbeit. Wenn man bei einem Amt jemand suche, sei der Gesuchte gerade in der Bar oder in die ver­län­ger­te Mittags­pau­se ge­gangen. Vigili (Ge­mein­de­po­li­zisten) würden kaum Straf­zet­tel vergeben und wenn doch, dann nur nach eigenem Gut­dün­gen. für einen nicht angelegten Gurt seien Stra­fen von 50 bis 500 Euro möglich. Aber nur der, den sie auf dem Kieker haben, muss letzt­endlich bezahlen. Antonio hat nur Respekt vor der einzigen „vigi­lessa“ (weib­lichen Po­li­zeibeamtin) in Vieste, die sogar ihrem Bruder einen Strafzettel ver­pass­te.
In einem kleinen Ort wie diesem, in dem sich alle kennen, sei es unvermeidlich und ganz normal, dass beim eigenen Schwager oder Cousin oder Freundesfreund ein Auge zu­gedrückt werde. Nur die Beamten der Guardia di Fi­nan­za (Finanzpolizei) und der Polizia di Stato (Staats­polizei) seien korrekt und behandelten alle gleich. Die Carabinieri würden manch­mal be­son­ders er­bar­mungs­los sein. Ein falsches Wort, und im Nu habe man eine Anklage wegen „offesa a pubblico ufficiale“ (Be­am­ten­be­lei­di­gung) am Hals.
Die „Punta di San Francesco
Abends treffe ich Antonio wieder. Diesmal erzählt er mir etwas Unglaubliches: Von den etwa 500 bagnini (Ba­de­meis­tern), die an der Küste arbeiteten, könne ein hoher Pro­zent­satz nicht oder nur unzureichend schwim­men. Die Ar­beit­geber (Campingplätze, Club­an­la­gen, Ho­tels)  hätten bei deren Einstellung nur die geringeren Gehälter (etwa 800 Euro im Monat bei Halb­jah­res­ver­trä­gen) im Auge. So würden die bagnini fast aus­schließ­lich mit Reinigungs- und Kellneraufgaben betraut. Viele seien auch nur schwarz an­gestellt und noch schlech­ter bezahlt. Auch fehlten zeit­kon­forme Ret­tungs­boo­te mit Außen­bord­mo­toren. Er selbst habe die Bademeister­prüfung in Deutsch­land ge­macht und sei beim ersten Mal durchgefallen, weil er es nicht geschafft hatte, einen Badenden in der Rücken­lage 1 1/2 Stunden lang zu schleppen. Von sol­chen strengen Anfor­de­run­gen kann man hier nur träumen.
Der „Faraglione“ (Felsenspitze) am Südstrand von Vieste

Der subtile Charme eines bürgerlichen Hotels
Sollte ich gedacht haben, im stilvollem Ambiente des Ho­tels Il Paradiso, im kleinen Ort Amandola in den Sibil­liner Ber­gen (Marken-Umbrien), we­gen der frühen Jahres­zeit der einzige Gast zu sein, täuschte ich mich. Als ich in den Spei­se­saal ein­tre­te, sitzen die Gäste bereits alle an ihrem an­ge­stamm­ten Platz. Eine vornehme Stille hallt durch den me­ter­ho­hen Raum. Selbst Flüstern wirft Echos.
Cosa le portiamo?“ (Was wünschen der Herr?)
Als „primo“ (ersten Gang) habe ich die Wahl zwischen:
Pappardelle fatte in casa con sugo di lepre“ (Haus­ge­mach­te Pappardelle mit Hasen­ragout), „Penne alle puttanesca con capperi e pe­pe­ron­cino“ (Penne auf „Nuttenart“ mit Kapern und Chili) oder"Ravioli alla ricotta con salvia“ (Ravioli mit Ricotta und Salbei).
"Di secondo avremmo“ (Als zweiten Gang hätten wir):
Agnello alla griglia“ (Gegrilltes Lamm), „Lombatina di vi­tello“ (Kalbslendenstück) oder „Sca­lop­pi­na al limone“ (Kalbsschnitzel „natur“ mit Zitronensoße).
Di contorno“ (als Beilage):
Patatine, carciofi, insalata mista“ (Pommes, Artischocken oder gemischten Salat).
Im Garten des Hotel Paradiso
Um die Beklemmung, die dieses Ambiente bei mir auslöst, ein wenig zu mildern, muss ich schleunigst ein Viertel Rotwein bestellen.
Bis auf den jungen Burschen am Nachbarstisch, der ein weißes T-Shirt trägt, haben sich alle in Schale geworfen. Beim Paar am linken Ne­ben­tisch hat der graumelierte Herr so­gar ei­nen weißen Strickpullover an - schließlich ist es in der feinen englischen Gesell­schaft so üb­lich!
Landschaft in den Monti Sibillini
Und die Tischdecken? Natürlich sind die auch eines blü­ten­reinen, wenn auch durch all die Saucen stark ge­fähr­de­ten Weiß. Aber Weiß mit Pappardelle? Hat denn niemand eine Ahnung davon, wie schwer Pappardelle um die Gabel zu wickeln sind? Und die Stücke des Hasen­ra­gouts? Da muss ich kräftig säbeln, um die Knochen vom Fleisch loszulösen. Nach dem zweiten Gang schiele ich verstohlen zum Ne­ben­tisch: Das Tischtuch ist dort immer noch blütenweiß. Auch der Ungestüm des Jun­gen konnte seinem Weiß nichts anhaben. Nach was für einem Schlacht­feld sieht hingegen meine Tischdecke aus! Waterloo? Mir ist als würden alle, sogar die über­spannt wirkende Jungfer am Ende des Saals vornehm he­rab­las­send auf die Tomaten­soß­flecken auf mei­nem Tisch starren. Ich gebe mich lässig, lege un­auf­fällig meine Serviette auf die schlimm­sten Stellen und bestelle ein Dessert.