Der Neorealismus (Neorealismo) bezeichnet eine Strömung der italienischen Filmgeschichte, die noch während der Zeit des italienischen Faschismus entstand und bis ins erste Jahrzehnt der Nachkriegszeit reichte (etwa von 1943 bis 1954). Der Neorealismus war eine Antwort auf den Faschismus in Italien, künstlerisch war er vom Poetischen Realismus Frankreichs (René Clair, Jean Renoir, Marcel Carné u.a.) beeinflusst, aber auch politisch durch den Marxismus motiviert.
Der Neorealismus übte einen großen Einfluss auf den zeitgenössischen Film aus, besonders in Italien. Er beeinflusste in hohem Maße die französische Nouvelle Vague, den amerikanischen Dokumentarfilm und die Polnische Filmschule, eine künstlerisch-intellektuelle Stilrichtung in der polnischen Kinematographie in den Jahren 1956-1965.
Die Filme des Neorealismus sollten die ungeschminkte „Wahrheit" ohne dramatische Akzentuierungen oder Ideologien zeigen, die Ursachen für Elend und Armut sichtbar machen, das Leiden unter der Diktatur, Armut und Unterdrückung des einfachen Volkes darstellen. Der Neorealismus war in erster Linie ein „moralischer Begriff„, so Roland Barthes, „der genau das als Wirklichkeit darstellt, was die bürgerliche Gesellschaft sich bemüht zu verbergen„. Anders als in Deutschland unter dem Nationalsozialismus hatten die Kunstschaffenden im faschistischen Italien noch relativ viel Spielraum.
Fluchtlinien des Neorealismus
4 Filme (Roberto Rossellini)
Rocco und seine Brüder
Seine wichtigsten Vertreter waren die Regisseure Roberto Rossellini, Luchino Visconti, Vittorio de Sica, Giuseppe de Santis, Pietro Germi, Alberto Lattuada und der Drehbuchautor Cesare Zavattini. Eine Sonderrolle spielte Federico Fellini (für ihn wurde der Begriff „Magischer Realismus“ geschaffen).
Kennzeichnend für den neorealistischen Filmstil war die Verwendung von Laiendarstellern (obwohl die Hauptrollen nicht selten auch mit bekannten Schauspielern besetzt waren), sowie eine zumeist einfache Geschichte, die im Arbeitermilieu oder bäuerlichem Umfeld angesiedelt war. Hauptthema war die wirtschaftliche und moralische Situation der italienischen Nachkriegszeit. Die Filme widerspiegelten die Veränderungen in den Gefühlen und den Lebensumständen der Menschen mit deren Frustrationen, Armut und Verzweiflung. Der italienische Neorealismus, in dem sich Kriegserfahrung und soziale Missstände spiegelten, nahm die zentrale Rolle in der Filmkunst der Nachkriegszeit ein.
Auch wegen den durch den Krieg schwer beschädigten römischen Cinecittà-Studios gingen Regisseure wie Roberto Rossellini, Alberto Lattuada oder Giuseppe de Santis auf die Straßen, um ihre Filme zu drehen und den Alltag italienischer Gegenwart zu inszenieren.
Der erste Film, der von der Kritik eindeutig dem Neorealismus zugeordnet wurde, war „Besessenheit“ von Luchino Visconti. In diesem Film tritt das Thema Leidenschaft in den Vordergrund. Der Film, der auf die Erzählung „The Postman Always Rings Twice“ basiert, geht es um eine Frau, die ihren Liebhaber zum Mord an ihrem Gatten überredet.
Wirklich aufmerksam auf das neue Genre wurde die Weltöffentlichkeit aber erst mit dem Film „Rom, offene Stadt“ von Roberto Rossellini, dem ersten wichtigen italienischen Film nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Der 1945 gedrehte Film spielt in Rom während des zweiten Weltkriegs und handelt von der Rebellion der Italiener gegen die deutschen Besatzer.
Im 1946 gedrehten Film „Paisà“ (zu Deutsch „Landsmann“) dokumentierte Rossellini ein weiteres Mal das Thema der Befreiung Italiens von den Nazifaschisten.
Vittorio De SicasFahrraddiebe (Ladri di biciclette) aus dem Jahr 1948 gilt als eines der Meisterwerke des italienischen Neorealismus. Es ist ein Film, dem es gelingt, mit einer äußerst einfachen Geschichte das Leid der Italiener der Nachkriegsgesellschaft eindringlich festzuhalten.
Als dem arbeitslosen Antonio das Fahrrad gestohlen wird, begibt er sich mit seinem Sohn Bruno auf eine Odyssee durch die Straßen Roms, um den Dieb und Rad, das er dringend benötigt, um seine neue Arbeit als Plakatkleber antreten zu können, wiederzufinden. Als Vater und Sohn den Dieb aber schließlich stellen, können sie nicht beweisen, dass das Fahrrad ihnen gehört. Aus Verzweiflung fasst Antonio den Beschluss, selbst ein Fahrrad zu stehlen, stellt sich dabei aber so ungeschickt an, dass man ihn erwischt und vor den Augen seines Sohnes verprügelt.
Bitterer Reis
Das Reismädchen - Nachfolgefilm zu „Bitterer Reis"
Das Jahrhundert des Kinos - 100 Jahre Film: Italien
In den Filmen „Besessenheit" con Visconti und „Bitterer Reis“ von Giuseppe de Santis ist es das Thema Leidenschaft, das in den Vordergrund tritt.
Im ersten, der auf die Erzählung „The Postman Always Rings Twice“ basiert, geht es um eine Frau, die ihren Liebhaber zum Mord an ihrem Gatten überredet. Der zweite zeigt ein Eifersuchtsdrama unter „mondine“ (Saisonarbeiterinnen auf den Reisfeldern) der Po-Ebene. Dennoch bleibt das Hauptthema des Films die Härte der Arbeitsbedingungen. Er zeigt zudem, wie schamlos die Not der Frauen, die auf die Arbeit angewiesen sind, von jenen Männern ausgenutzt wird, die sich an ihnen bereichern.
Szene aus „Bitterer Reis" []
Filmauswahl
Luchino Visconti
Ossessione (Besessenheit, 1943)
La terra trema (Die Erde bebt, 1948)
Bellissima (1951)
Rocco e i suoi fratelli (Rocco und seine Brüder, 1960)
Roberto Rossellini
Roma, città aperta (Rom, offene Stadt, 1946)
Paisà (1946)
Germania anno zero (Deutschland im Jahre Null, 1948)
Stromboli (1949)
Vittorio de Sica
Sciuscià (Schuhglanz, 1946) - Oscar ab honorem
Ladri di biciclette (Fahrraddiebe, 1948) - Oscar für den besten ausländischen Film
Miracolo a Milano (Das Wunder von Mailand, 1951) - Goldene Palme beim Festival von Cannes