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Die 1972 in Cabras (Sardinien) geborene Michela Murgia ist eine italienische Schriftstellerin, die bereits mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet wurde (Premio Campiello, Premio Mondello, Premio Dessì). Sie studierte Theologie und war eine Zeit lang Erzieherin und Animateurin bei der Azione Cattolica (Katholischen Aktion), der Laienbewegung der katholischen Kirche. |
Laut ihren eigenen Aussagen hat sie, die in Sardinien geboren wurde und in all den Jahren unzählige Adressen gewechselt hat, niemals aufgehört, Sardinien zu bewohnen. Obwohl sie Theologie studiert hat, mag sie es nicht, eine Theologin genannt zu werden. Sie raucht nicht, trägt keinen teuren Schmuck, liebt keine abgeschnittenen Blumen, ist Vegetarierin, kann aber die Situationen erkennen, in denen man eine Ausnahme machen kann. In der Politik positioniert sie sich links und in ihrer ethischen Vorstellung hat das Wort „Links" noch eine verpflichtende Bedeutung. |
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Die Welt soll wissen |
Das erste, 2006 erschienene Buch von Michela Murgia, „ Il mondo deve sapere" (wörtlich: „ Die Welt soll wissen“), das auf Deutsch unter dem Titel „ Camilla im Callcenterland“ erschienen ist, beschreibt die prekären Arbeitsbedingungen in einem Callcenter, wie sie Michela Murgia persönlich erlebt hat. Das Buch, das anfangs als Internet-Blog konzipiert worden war, handelt von der wirtschaftlichen Ausbeutung und der psychologischen Manipulation, denen die Leiharbeiterinnen ausgesetzt sind.
Dieses Buch wurde von David Emmer und Teresa Saponangelo als Theaterstück auf die Bühne gebracht und inspirierte auch das Drehbuch des Films „ Das ganze Leben liegt vor dir“ von Paolo Virzì. |
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Sardische Notizen |
Im Mai 2008 veröffentlichte Murgia den Erzählungsband „Viaggio in Sardegna. Undici percorsi nell'isola che non si vede" („Elf Wege über eine Insel - Sardische Notizen“) über die wenig erforschten Orte der Insel Sardinien. Vieles, was sie darin beschreibt, war selbst den Italienern nicht bekannt. |
Michela Murgia zeigt uns in diesem Buch ihr Sardinien, ein fremdes, stolzes Land, das wenig mit den vom Tourismus geprägten Klischee-Vorstellungen zu tun hat, die man mit dieser Insel assoziiert. Es ist das Sardinien der Erzählungen und der Stille, der Riten und der Beschwörungen, der Steine und der Gesichter einer Insel mit 1000 Geheimnissen. Man wandelt zwischen Wandmalereien, Nuraghen, Küsten, Pyramiden, Bergwerken, Brunnen, Poesie und Musik. |
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S'accabbadora |
In einem Land wie Sardinien, das vollgespickt ist mit historischen Vermächtnissen, Märchen, Magie und Legenden, ragt, in einer düsteren und zugleich humanistischen Vision, die Figur der Accabadora hervor, einer Frau, die es bis Mitte des 20. Jahrhunderts gab, und deren Aufgabe es war, Sterbende von ihrem Leiden zu erlösen. „Accabadora“ bedeutet, wörtlich übersetzt, etwa „Die, die es beendet“. Es gibt genügend Dokumentationsmaterial in Museen und Diözesen, die die reale Existenz dieser Figur bestätigen. |
Die Accabadora wurde immer von der Familie eines Kranken im Endstadium gerufen und sorgte dafür, dass dieser starb und sein Leiden ein Ende hatte. Diese „femmina accabadora“ kam immer in der Nacht. Nachdem sie die Verwandten aus dem Sterbezimmer entfernen ließ, trat sie, schwarz gekleidet und mit bedecktem Gesicht, in das Zimmer. Der Sterbende erkannte in ihr sofort seine Erlöserin. Der Sterbende wurde meist mittels eines Kissens oder mit dem Schlag eines „mazzolu“ (kleinen Knüppels) auf die Stirn getötet. Danach bedankten sich die Familienangehörigen bei der Frau und beschenkten sie mit landwirtschaftlichen Produkten. |
Im Mai 2009 erschien Michela Murgias Roman Accabadora. Michela Murgia hat sich für diesen mehrfach ausgezeichneten Roman, der im Sardinien der 1950er Jahre spielt, ein sehr heikles Thema ausgesucht. „Mutterschaft, Leben und Tod gehören zu den wenigen Themen, die es wert sind, Gedanken und Worte zu verschwenden“, sagt die Sardinierin. |
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Maria lebt bei ihrer Adoptivmutter Bonaria Urrai, nachdem sie im Alter von sechs Jahren von ihrer Mutter, die in völliger Armut lebte, weggegeben wurde. Maria ist eine „fill’e anima“, ein Kind des Herzens, wie man in Sardinien Kinder mit zwei Müttern nennt. War früher Maria gewöhnt, die Letzte in einer zu großen Familie und damit auch eine zu viel zu sein, so hat sie jetzt bei der alten Schneiderin Tzia Bonnaria ein neues Zuhause. Dennoch tuscheln die Bewohner des kleinen sardischen Dorfes jedes Mal, wenn die beiden die Straße hinunterlaufen. Und ein Geheimnis umweht die schweigsame, stets schwarz gekleidete Bonaria. Immer wieder erhält die alte Frau des Nachts Besuch und verlässt daraufhin ihr Haus, wenn Maria schlafen soll. Das Mädchen spürt, dass es nicht nach dem Warum fragen darf. Erst sehr spät entdeckt Maria die Wahrheit. Ist es ein Zufall, dass „Bonaria“ auf Italienisch auch „die Gutmütige“ bedeutet? |
Das Buch führt, wie auch „Padre padrone“ von Gavino Ledda und „Christus kam nur bis Eboli“ von Carlo Levi zurück zu einer archaischen Welt von Abgeschiedenheit, Armut, Aberglaube und überkommenen Lebensvorstellungen, die im heutigen Italien des Konsums und der Massenmedien kaum noch zu finden ist. |
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Ave Mary |
Mit ihrem 2011 erschienenen Buch „Ave Mary - e la chiesa inventò la donna“ („Wie die Kirche die Frau erfand“) hat Michela Murgia ein weiteres heißes Eisen angefasst: den Einfluss, den die Kirche immer noch auf die Rolle der Frau in der Beziehung zwischen Mann und Frau hat. |
Der Einfluss der Kirche ist in Italien auch heute noch der ausschlaggebende Faktor bei der Bestimmung des Bildes der Frau in der Gesellschaft. Mittels konkreten Beispielen zeigt Murgias Buch, dass die tief verwurzelte katholische Einstellung auch bei nicht religiösen Menschen weiterhin die traditionelle Hierarchie der Geschlechter legitimiert, auch in Bereichen, die dem Anschein nach religionsfern sind. Mit dem Bewusstsein einer emanzipierten Frau aber auch mit der Kompetenz einer gläubigen Frau gelingt es Michela Murgia in diesem Buch die Täuschungen zu entlarven, die die Beziehungen der Geschlechter immer noch bestimmen. |
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