Virginia Oldoini Verasis kam in Florenz am 22. März 1837 als Tochter der Marquise Isabella Lamporecchi und des Markgrafs Filippo Oldoini auf die Welt. Schon im Alter von 16 Jahren hatte sie, die alle „Virginicchia“ oder einfach „Nicchia“ nannten, „das Aussehen einer Göttin“. Aufgrund ihrer stadtbekannten sexuellen Eskapaden beschloss der Familienrat 1854, sie mit dem 12 Jahre älteren Grafen Francesco Verasis di Castiglione zu verheiraten, Cousin des Grafen Camillo Benso di Cavour und Adjutant des Königs Viktor Emanuel II. von Sardinien-Piemont.
Das junge Grafenpaar zog nach Turin und wurde dort am Hof des Königshauses Savoyen eingeführt. Virginia hielt nicht viel von ihrem Gatten: „Ich bin mit einem Schwachsinnigen verheiratet“, soll sie einmal geäußert haben. Nach der Geburt ihres Sohnes weigerte sie sich deshalb, weiter mit ihm das Bett zu teilen.
Die „Contessa“, von allen als eine der schönsten Frauen Europas betrachtet, fühlte sich sehr vom Hofleben angezogen und es gelang ihr innerhalb kürzester Zeit mit ihrer Schönheit, ihrer Intelligenz und ihrem Charme, die Aufmerksamkeit des Königs zu erlangen. Auch dem Grafen von Cavour blieben ihre besonderen Eigenschaften nicht verborgen, die er am Hof des französischen Kaisers Napoleon III. gut platziert sah. Cavour kannte die Schwäche Napoleons für junge hübsche Frauen und entsann sich seiner Cousine Virginia. Sie sollte als Lockvogel den Kaiser „erobern und, wenn nötig, verführen“. „La Castiglione“ sollte damit Napoleon davon überzeugen, mit der italienischen Sache zu sympathisieren und Frankreich zusammen mit Italien gegen Österreich zu positionieren. So wurde die Castiglione im Januar 1856 nach Paris als „Botschafterin“ Italiens gesandt.
In Paris sorgten ihre Auftritte bald für Furore. Sie besaß einen bemerkenswert großen Busen, langes kastanienfarbenes Haar, schräg stehende blaue Augen, ein ovales Gesicht und einen perfekt geformten Mund, der ihrem Antlitz oft einen leicht traurigen Ausdruck gab. Ihre schöne Contralto-Stimme und die gezielt eingesetzten aussagekräftigen Momente des Schweigens gaben ihr den Anschein, unergründlich und voller Geheimnisse zu sein.
Auf jeden Fall war „La Castiglione“ raffiniert genug, dafür zu sorgen, dass der Kaiser der Franzosen von ihrer Schönheit und ihrem Charme überwältigt wurde. Sie führte ihre Aufgabe als „besondere Diplomatin“ gezielt aus. Napoleon schenkte ihr ein 440.000 Franc teueres Perlenhalsband und einen Smaragdring, der 100.000 Franc kostete, und kaufte ihr ein Haus in der vornehmen Rue de Ponthieu. Doch „La Castiglione“ spielte so lange die Tugendhafte, bis der Kaiser alles tat, was sie verlangte.
Nachdem die Liaison mit Napoleon III. bekannt wurde, trennte sich „La Castiglione“ von ihrem Mann und blieb allein in Paris. Ihrer Affäre mit dem französischen Kaiser dauerte fast zwei Jahre (1856-1857).
Die Affäre kam zu einem Ende, als auf den Kaiser am 2. April 1857 ein Attentat ausgeübt wurde, genau, als er auf dem Weg zur Castiglione war. Möglicherweise war es ein Hinterhalt, der direkt von Kaiserin Eugenia organisiert worden war, die von dieser Affäre die Nase voll hatte. Der Skandal, der daraus folgte, zwang Virginia, um dem Dekret der Ausweisung zu entgehen, aus eigenem Beschluss 1857 Paris zu verlassen. Im Jahr 1862 kehrte sie aber auf Fürsprache des Botschafters Costantino Nigra nach Paris zurück. Nach ihrer Rückkehr bewohnte sie eine Villa in Passy.
Virginia Oldoini, Contessa di Castiglione
Ganz offensichtlich hatte „La Castiglione“ ihren politischen Auftrag erfüllt. 1858 schlossen Frankreich und Sardinien-Piemont einen Beistandspakt, und als im April 1859 Österreich ein Ultimatum stellte, marschierten Napoleons Armeen gemeinsam mit den Italienern. Der Krieg, der von den Italienern auch Zweiter Unabhängigkeitskrieg genannt wird, wurde 1859 zwischen dem Kaisertum Österreich einerseits und Sardinien-Piemont und dem französischen Kaiserreich andererseits geführt. Napoleon III. ließ sich für seine Hilfe die Gebiete Nizza und Savoyen versprechen. Sardinien-Piemont wollte das Königreich Lombardo-Venetien von der österreichischen Herrschaft befreien und sich selbst einverleiben. In der Schlacht bei Solferino erlitten die Österreicher am 24. Juni 1859 eine entscheidende Niederlage.
Zwei Jahre später wurde das Königreich Italien verkündet, auch dank dem Einfluss, den die Gräfin auf Napoleon III. ausgeübt hatte.
Nach der Niederlage von Frankreich im Deutsch-Französischen Krieg (1870–1871) wurde Virginia zu einem geheimen Treffen mit Otto von Bismarck gerufen, um ihn davon zu überzeugen, wie sehr eine deutsche Besetzung von Paris seinen Interessen schaden könnte. Sie muss wohl überzeugend gewesen sein, denn Paris blieb von einer Besetzung verschont.
La Divine Comtesse: Photographs
Napoleon III. Frankreichs letzter Kaiser
Bis zu ihrem Tod im Jahr 1899 lebte sie mehr oder weniger zurückgezogen in ihrer Pariser Wohnung und in Turin. Sie reiste viel und hatte einen großen Freundeskreis, vermied jedoch öffentliche Auftritte. Legendär wurden ihre nächtlichen langen Spaziergänge durch Paris. Virginia Oldoini, Gräfin von Castiglione starb am 28. November 1899 in ihrer Pariser Wohnung am Place Vendôme. Sie hätte nach Italien zurückkehren wollen um sich dort mit ihren Juwelen begraben, dem grünen Nachthemd und ihren beiden (ausgestopften) Hunden, Sanduga und Casino, begraben zu lassen. Stattdessen wurde sie auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris bestattet.
Am Tag nach ihrer Beerdigung zerstörten die Polizei und Carlo Sforza (der italienischen Botschaft) alle kompromittierenden Briefe und Dokumente über Könige, Politiker, Päpste und Bankiers, von Napoleon III. bis Bismarck und Cavour. Ihre Tagebücher bleiben.
Virginia Oldoini war ein Leben lang besessen von ihrer eigenen Schönheit und saß im Laufe ihres Lebens für mehrere Hundert Porträts Modell. 1856 saß sie für die Hoffotografen Mayer & Pierson Modell. Mit Pierre-Louis Pierson arbeitete sie an über 400 Fotografien.
Sie saß über einen Zeitraum von 40 Jahren, zwischen 1856 und 1895, für Hunderte solcher faszinierender Fotos Modell. Sie war nicht nur Modell: Sie setzte jedes Foto selbst höchst penibel und anspruchsvoll in Szene. Robert de Montesquiou (1855–1921) schrieb ganze dreizehn Jahre lang an ihrer Biografie "La Divine Comtesse" (1913). In seinem Besitz waren über 275 Fotografien von ihr, die 1975 vom Metropolitan Museum of Art erworben wurden.
Virginia hatte niemanden anderen als sich selbst geliebt, sodass sogar ihr Sohn Giorgio, der 1879 an Pocken in Madrid starb, sie nicht leiden konnte. Von den Männern konnte sie sich lieben lassen, aber die Frauen hassten sie, insbesondere die spanische Eugenia Montijno, die Gemahlin Napoleons.
Der französische Historiker Ghislain de Diesbach stellte fest: „Die Gräfin Castiglione war eine außerordentlich fesselnde Frau, die in einigen Tagen mehr zur Vereinigung Italiens beigetragen hat, als die Revolutionäre um Garibaldi in über fünfzehn Jahren.“
La Divine Comtesse: Photographs of the Countess de Castiglione (Metropolitan Museum of Art)