Wissenswertes

La raccomandazine (die „Empfehlung“)

Im Wörterbuch findet man beim Begriff „racco­man­da­zione“, der von „raccomandare“ (emp­feh­len) abgeleitet wird, die Übersetzungen „Rat­schlag“, „Ermahnung“, „Empfehlung“. Was auch im All­ge­meinen stimmt. Wenn man jemandem ein Res­tau­rant empfiehlt, da wird ihm dieses „racco­man­dato“ (empfohlen). Wenn man einem Freund „mi rac­co­man­do“ sagt, ist dies eine Aufforderung, die etwa dem Deutschen „ich bitte eindringlich" oder „tue mir den Gefallen" entspricht. In den meisten Fällen, in denen von einer „rac­co­man­dazione“ ge­sprochen wird, wäre dieses Wort aber besser mit „Vitamin B" übersetzt. Wer das Glück hat, Politiker, Professoren, Amtsträger oder andere einflussreiche Personen als Freunde zu haben, der kann sich von diesen für Einstellungsgespräche und zum Erlangen zahlreicher Begünstigungen nütz­liche „raccomandazioni“ geben lassen.
Aber nicht nur Freundschaften dienen in der ita­lie­ni­schen Gesellschaft diesem Zweck, selbstverständlich sind es auch die familiären Beziehungen. Der Ein­fluss der Familie reicht nach wie vor sehr weit. Wer eine Hilfestellung, eine Vergünstigung oder sogar einen Arbeitsplatz haben will, hat es viel leichter, wenn er dabei Familienbeziehungen ins Spiel bringen kann. „Rac­co­man­da­zioni“ können nicht selten mehr Gewicht haben als etwa ein hervorragendes Ab­schlusszeugnis.
Laut dem In­sti­tut ISFOL („Is­ti­tu­to per lo svi­lup­po del­la for­ma­zio­ne pro­fes­sio­na­le dei la­vo­ra­tori" („In­sti­tut für die Ent­wick­lung der be­ruf­li­chen Bil­dung Er­werbs­tä­tiger“) haben 30,7 % der ita­lie­ni­schen Be­schäf­tig­ten ihren Ar­beits­platz mit­tels ei­ner „rac­co­man­da­zio­ne“ er­hal­ten. Und was noch viel schlim­mer ist: Bei der jun­gen Ge­ne­ra­tion liegt die­se Quo­te bei 40 %, bei stei­gen­der Ten­denz. In einem rückständigen Italien gilt die Empfehlung eines Bekannten mehr als Qua­li­fi­ka­tion, Lebenslauf oder ein gutes Vor­stel­lungs­ge­spräch. Mancherorts findet man keine Arbeit, wenn man nicht „raccomandato“ ist. Laut einer noch dramatischer klingenden Untersuchung des Un­ter­neh­mer­ver­ban­des Con­fin­dustria werden sogar fast 70% der Stel­len an Be­kann­te und Verwandte vergeben. Die Realität wird von der „racco­man­da­zio­ne“ beherrscht. Die viel gelobte Meritokratie, in der nur Leistung über ge­sell­schaftliches Fortkommen entscheiden sollte, erweist sich als völ­liges Trugbild. Und je weiter man gen Süden kommt, umso mehr nimmt die Bedeutung der „raccomandazione“ zu.
Die italienischen Medien sprechen, wenn sie vom weitverbreiteten System von Begünstigungen und Verteilung von öffentlichen Ämtern an Personen, mit denen man verwandt ist, von „parentopoli„.

Un minimo di rispetto Ein Mindestmaß an Respekt: Racconti italiani del Novecento Italienische Erzählungen des 20. Jahrhunderts
Überleben in Italien
Italien in vollen Zügen
Ein Mindest­maß an Res­pekt: Ita­lie­ni­sche Er­zäh­lun­gen des 20. Jahr­hunderts
Überleben in Italien
von Beppe Severgnini
Italien in vollen Zügen

Und nicht nur bei der Arbeitssuche bekommt man mittels einer „racco­man­da­zionen“ eine „spintarella“, einen klei­nen hilfreichen Schubs. Die kleinen An­schü­be helfen dabei, einen Platz im Krankenhaus zu finden, ein Kfz-Ab­stell­platz in der Garage, einen Tisch in ei­nem „vol­len" Lokal oder nicht lange auf die Aus­stellung eines Reisepasses warten zu müssen. Unzählig sind die klei­nen oder großen Ereignisse bei denen „Empfehlungen" eine Rolle spielen.

Das Leben eines Italieners ist mit dem System der „raccomandazioni“ eng verwoben, als handle es sich um ein Naturgesetz. Schmiergelder, Drohun­gen, Be­trü­ge­reien und Be­ste­chun­gen sind eine fast na­tür­liche Folge­er­schei­nung eines Le­bens, welches auf dem Prinzip der Ungleichheit basiert. Eine Un­gleich­heit – aber – die nicht auf un­ter­schied­liche Leis­tun­gen basiert, sondern aus­schließlich auf Beziehungen.


Es ist nicht lange her, da wollte das schwedische Möbelhaus IKEA eine Filiale in San Giovanni Teatino (Abruzzen) eröffnen. Man kann nur ahnen, wie sehr sich die Verantwortlichen der Firma gewundert ha­ben müssen, als sie einen Brief (auf dem offiziellen Briefpapier der Gemeinde) erhielten, in dem ein Kommunalpolitiker wissen wollte, wie die Ein­stel­lun­gen laufen würden, und gleich eine Liste der Per­so­nen beigefügt hatte, die IKEA bitte in dem neuen Laden einstellen sollte. Noch größer muss das Erstaunen des Politikers ge­we­sen sein – ist es doch „normal" in Italien, den „eigenen" Menschen im Ge­gen­zug für Wählerstimmen Arbeitsplätze zu ver­schaf­fen –, als er die Antwort von IKEA bekam: Die Leitung des Unternehmens ließ wissen, dass man sich nicht Dritten gegenüber über das Aus­wahl­ver­fahren äußern könne und dass das Unternehmen ausschließlich nach den Fähigkeiten der Bewerber einstelle.
Bei IKEA bewerben sich jedes Mal Zehntausende Personen. In der Zen­tra­le erinnert man sich auch an eine ganz besondere raccomandazione: Sie war von einem Bischof gekommen.
Laut der britischen Wochenzeitschrift The Eco­no­mist zählten in Italien Be­gabung und Verdienst nicht viel bei der Suche nach einem Arbeitsplatz: Der Zu­gang zu einem Job hänge von den Fa­mi­lien­netz­wer­ken ab, von politischer Cliquen­wirt­schaft und „raccomandazioni„. Eine „italienische Art, die Dinge zu tun“, die bei der gebildeteren Jugend Frustration erzeuge. Dies ist der Grund, weshalb so viele Aka­de­mi­ker es kaum erwarten können, dem Land den Rü­cken zu kehren. 300.000 von ihnen haben, laut einer Statistik der OSZE, im Jahr 2005 das Land verlassen. Im Jahr 2002 hatte ein Vertreter der Re­gie­rung Berlusconi noch behauptet, das Problem existiere nicht, und dass nur 150 bis 300 Aka­de­mi­ker jedes Jahr Italien verließen.
 
 
 
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