Es gibt einen Dokumentarfilm
der Escuela Internacional de Cine y Television (dessen Vorsitzender Gabriel Garcia Marquez ist), mit dem Titel
„Vu cumprà“, der sich mit den Lebensbedingungen
von afrikanischen Einwanderern in der
Provinz Pisa befasst.
Der Anlass des Films
war der Mord
an Jerry Masslo im Sommer 1989 in Villa Literno. Der Film sammelt Meinungen und Zeugenaussagen von Menschen,
die einen Bezug zum Thema der Einwanderung hatten. Erste unter
ihnen die extracommunitari und die vu cumprà.
Daraus ergibt sich die ganze Dramatik des Integrationsproblems
und die Unmöglichkeit, jedwede
Arbeit zu finden, außer dem eines fliegenden Händlers.
Niemand weiß genau, wie viele
Immigranten (man nennt sie extracomunitari,
nicht EU-Bürger) aus den Ländern der dritten
Welt es inzwischen gibt in Italien; sicher mehr
als eine Million, in manchen Städten sollen sie angeblich
bis zu 10% der Bevölkerung betragen.
Die meisten dieser extracomunitari, die aus den unterschiedlichsten Herkunftsländern kommen, sind illegal.
In den 1970er Jahren waren es hauptsächlich politisch motivierte
Immigranten, heute handelt es sich um reine Armutsmigranten,
Araber aus dem Maghreb, Philippinos, Schwarzafrikaner, Ecuadorianer,
Ukrainer.
Diese Migranten
sind, weil ihnen jegliche staatliche Unterstützung fehlt,
praktisch vom ersten Tag an zur Billiglohnarbeit gezwungen.
Sie arbeiten als Erntehelfer in der Landwirtschaft,
in Reinigungsdiensten, im Gastgewerbe, als Straßenverkäufer,
als Haushaltshilfen und private Krankenpflegerinnen,
die sogenannten badanti (von
badare = sich kümmern). Dazu kommen
noch eine Anzahl von halblegalen und illegalen Beschäftigungen,
die von der Prostitution bis zum Schwarzmarkt gehen.
Für
ihre kümmerlichen Unterkünfte (Schichtschlafen
in Miniwohnungen ist nicht selten!) müssen sie Wucherpreise zahlen, ihre Löhne sind
gering und unregelmäßig, sehr oft werden sie von der einheimischen
Konkurrenz, denen sie ein Dorn im Auge sind, schikaniert und bei der Polizei angezeigt.
Vu cumprà nennt man jene, sie sich als fliegende Händler ihren Lebensunterhalt
verdienen. Denn „Vu' cumprà?“, eine
Verballhornung von „vuoi comprare?“ (Möchten
Sie etwas kaufen?), ist die Frage, die sie ihren potenziellen Kunden stellen. Davon haben
sie ihren Namen bekommen, die Hunderttausenden von Schwarzafrikanern
(die meisten kommen aus Senegal), die an den Stränden und in den
historischen Innenstädten ihren Ramsch anbieten.
Die italienischen Strände sind (in der
Saison) „der größte illegale Markt der Welt“.
Senegalesen und Nordafrikaner teilen sich diesen
Markt auf. CDs, Billigkopien
von Markenprodukten (T-Shirts, Handtaschen, Gürtel, Sonnenbrillen
etc.), Spielzeuge. Die Organisation der (legalen) Gewerbetreibenden
schätzt - allein für die Küstenstrecke
zwischen Cervia und Ravenna (Adria) - einen
täglichen Verlust aufgrund der Illegalen von einer halben Million
Euro.
Von den Händlern bekämpft,
von der Polizei ständig gehetzt, werden die vu cumprà aber von den Badegästen geliebt und unterstützt. Inzwischen
haben sie sich auch auf neue Formen von Dienstleistungen eingestellt:
Masseure (Chinesen) und Tätowierer (Singhalesen).
Vu comprà
Viele Italiener lieben das bequeme Shopping am Strand. Billig ist es sowieso, weil die Verkäufer keine Steuern zahlen. Viele Italiener haben Mitleid mit den Extracomunitari, wie die Nicht-EU-Ausländer genannt werden. Die Vu' cumprà werden als brave Menschen gesehen, die nur Geld verdienen, um es Frau und Kindern in die Heimat zu schicken. So kaufen sie lieber bei ihnen statt im Laden.
Migropolis
Erklär mir Italien!: Wie kann man ein Land lieben, das einen zur Verzweiflung treibt?
Gebrauchsanweisung für Italien
„An den Stränden verkaufen
ist schwierig“, erzählt Modou, ein junger Senegalese. Die Kosten nehmen zu, die Wohnungsmiete in der Stadt muss
weitergezahlt werden. Und die Familie
zu Hause (er hat zehn Personen, um die er sich kümmern
muss, davon zwei Ehefrauen) braucht immer mehr Geld.
Ich verkaufe auf den Stränden von Rimini, Riccione,
Cattolica. Ich war sogar bis San Benedetto del Tronto.„
„Am Meer ist es einfacher,
zu verkaufen, die Menschen sind entspannter als in der Stadt.
Aber man muss Kilometer und Kilometer unter sengender
Hitze marschieren.„
Am schlimmsten seien die Polizeikontrollen,
meint Modou. Sie kommen in Zivil, man denkt, sie seien normale
Kunden, dann zeigen sie dir ihren Ausweis und requirieren die
ganze Ware. Und wer keine Aufenthaltsgenehmigung
hat, wird aus dem Land verwiesen.
„Es retten uns die alten Damen“,
meint Modou, denn sie scheuen sich nicht davor, den Gemeindepolizisten
(vigili) zu sagen, dass sie uns in Ruhe lassen sollen,
weil wir ja nur unsere Arbeit tun.
Von „Vu cumprà" eingenommener Strand
Weil sich die Badegäste
oft mit den Händlern solidarisieren, setzte die Polizei, zunächst auf Prävention, z. B. auf das Verbot, an
die Illegalen Wohnungen zu vermieten. Wer es
widerrechtlich dennoch tut, kann bis zu drei Monate Gefängnis
verurteilt werden.
Das Phänomen gerät allmählich aber außer Kontrolle. Dass Mafia und Camorra mitverdienen, ist bekannt. Deshalb sagte die italienische Regierung den illegalen Händlern den Kampf an. Innenminister Angelino Alfano rief die Polizeichefs in allen Städten zu stärkeren Kontrollen auf, um Straßenhändler abzuhalten, ihre gefälschte Ware anzubieten.
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