La bella figura |
Wer weiße Socken und Sandalen
trägt oder sich als nicht mehr ganz junger Mensch wie ein Teenager kleidet, der hat sein Image auf der gesamten Halbinsel verspielt. Denn wenn die regionalen Unterschiede in Italien in Bezug auf Verhaltensregeln auch noch so groß sein können, die Regeln der „bella
figura“ sind italienweit (fast) identisch. |
La figura, die Figur, die Gestalt, das Erscheinungsbild, das ist etwas Konkretes, das nicht unbedingt etwas mit der inneren Realität zu tun haben muss. Die „bella figura“ soll aber im Idealfall nicht bloßer Schein sein, sondern der Spiegel der eigenen Person. |
Auch wenn viele Regeln im
heutigen Italien nicht mehr so genau genommen werden, bleibt „far
bella figura“ (einen guten Eindruck machen) nach wie
vor ein Muss. Darunter versteht man die Kunst, gut dazustehen
und nicht unangenehm aufzufallen. Dazu gehört, dass man sich geschmackvoll
anzieht, ein gepflegtes Äußere zeigt, freundlich ist, und sich im allgemein zivilisiert benimmt.
Andernfalls würde man sich vor den Mitmenschen blamieren. |
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Entsprechend gehört es auch zur guten Sitte, dass man
auch die anderen gut aussehen lässt und sie nicht in Verlegenheit bringt. Diese Einstellung wird von den meisten Italienern mit ganzem Herzen als der beste Weg gesehen, die Welt für sich selbst und allen, mit denen man in Berührung kommt, zu einem besseren Ort zu machen. Die „bella figura“ zu kultivieren bedeutet letztlich auch, dass man der Kraft der Schönheit und der Verhältnismäßigkeit vertraut. |
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La bella figura []
(Beppe Severgnini) |
Darf man das?: Ein
Benimmbuch für unterwegs |
Das Dolce-Vita-Prinzip |
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Besonders im Arbeitsleben ist das Bestreben, „bella figura“ zu machen, eine der Grundregeln. Man vermeidet direkte Konfrontationen,
verhält sich diplomatisch. Ungeduld wird als schlechte Eigenschaft verpönt. Wenn auch nicht so ausgeprägt wie in Asien, so ist es bei der menschlichen Interaktion in Italien wichtig, dass jeder sein Gesicht wahren kann und eine Win-Win-Situation geschaffen wird. |
Dass die
„bella figura“ in Italien tatsächlich einen hohen
Stellenwert hat, kann man in der Presse sehr leicht feststellen. Dort werden, wenn über Persönlichkeiten des öffentlichen Leben geschrieben wird, sehr stark Aussehen, Kleidung und Manieren ausführlich
kommentiert. |
Ein bekannter Kinderreim
fängt mit folgenden Strophen an: |
Era una zanzara in abito da sera, |
se l'era messo per far bella figura |
e se ne volava intorno a una culla |
una culla bella con un fiocco rosa |
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(Es war eine Mücke im Abendkleid, |
sie hatte es angezogen des guten Eindrucks wegen |
und sie flog beständig um eine
Wiege herum, |
eine hübsche Wiege mit einer
rosa Schleife) |
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Man macht „bella
figura“, wenn man bei einem Restaurantbesuch mit italienischen
Freunden nicht auf getrennte Kasse besteht, sondern die Gesamtsumme
großzügig in gleiche Teile
aufteilt – selbst wenn man viel weniger gegessen und getrunken hat als die anderen Gäste. Sonst gilt man als schäbig und macht im Restaurant vor aller Öffentlichkeit eine „brutta
figura“, bzw. „una figuraccia“. Nur unter guten Freunden kann man den eigenen Beitrag Pi mal Daumen etwas gerechter ausfallen lassen. |
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In einem
Kochforum im Internet gelesen: „Wer hilft mir, „bella
figura“ zu machen? Wer gibt mir Ratschläge, wie
ich die perfekten Vorspeisen zubereite, um bei meiner Schwiegermutter,
die immer an mir herumnörgelt, einen guten Eindruck zu machen?" |
„Brutta figura“ macht, wer auf sein Äußeres nicht achtet, wer unrasiert in der Öffentlichkeit erscheint (das galt jedenfalls, bevor der Dreitagebart seinen Siegeszug antrat), wer in ein Fettnäpfchen tritt, wer sich unhöflich verhält, wer Gäste in eine unaufgeräumte, ungepflegte Wohnung einlädt. Schmutz in jeglicher Form macht ganz entschieden „brutta figura„. Italiener geben weltweit am meisten für Toilettenartikel und Reinigungsmittel aus. |
Nicht wenige Italiener schämen sich zurzeit wegen der „brutta figura“, die Premierminister Berlusconi seinem Land im Ausland machen lässt. |
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Fettnäpfchenführer Italien:
Wie man so tut, als
sei man Italiener |
Ein ulkiges Stück Toskana: La bella figura und andere italienische Konzepte, die sich mir entziehen |
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„Bella figura“ zu machen hat auch die weitere Bedeutung, sich gut geschlagen zu haben, also ein gutes Bild von sich abgegeben zu haben. Einer Fußballmannschaft,
die zwar verloren, aber gut gespielt hat, bescheinigt
man, dass sie eine „bella figura“ gemacht hat. |
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Das Bella-figura-Prinzip hat als zufällige Nebenwirkung auch einen weiteren, äußerst positiven Effekt. Es dient gewissermaßen der sozialen Nivellierung. Weil sich selbst der Ärmste geschmackvoll anziehen kann – die Bekleidungsindustrie macht's preiswert –, merkt man ihm (bzw. ihr) nicht auf Anhieb die Zugehörigkeit zu einer benachteiligteren Schicht an. Selbst die bescheidenste italienische „colf“ (Hausgehilfin) hat das Talent, sich wie eine „signora“ (feine Dame) anzuziehen, ohne gleich aufgetakelt zu wirken. |
Neben dem Begriff der „bella figura“ gibt es in der italienischen Sprache auch einen weiteren Begriff, den es in dieser Form im Deutschen nicht gibt: „bella presenza„. Dieser Begriff wird manchmal fälschlicherweise mit „der schöne Schein" übersetzt. Am ehesten trifft der Begriff „ein schönes Erscheinungsbild" den Kern der Aussage. Man findet diesen Begriff oft in Heiratsanzeigen oder in Stellenangeboten: „Cercasi segretaria bella presenza“ (Sekretärin gesucht mit gutem Erscheinungsbild). Damit ist nicht gemeint, dass die entsprechende Person „schön" sein muss. Sie muss sich aber sehen lassen können, gepflegt sein, mit ihrem Äußeren eine gute Wirkung erzielen. |
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